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Gemeindepsychiatrischen Alltag mit der Lupe betrachten

Professorinnen der Katholischen Hochschule Mainz leiten Forschungsprojekt zur Verbesserung der Verständigung zwischen Mitarbeitenden und Nutzern gemeindepsychiatrischer Einrichtungen.

Prof. Dr. Brigitte Anderl-Doliwa (links) und Prof. Dr. Margret Dörr (rechts) untersuchen in ihrem Forschungsprojekt VISION-RA die Interaktion in gemeindepsychiatrischen Einrichtungen. (© KH Mainz/Mauer)

Was kann man tun, um die Verständigung zwischen Mitarbeitenden und Nutzern gemeindepsychiatrischer Einrichtungen zu verbessern, hilfreiche Reaktionsweisen zu stärken und somit die Lebensqualität betroffener Menschen zu fördern? Das Forschungsprojekt VISION-RA unter der Leitung von Prof. Dr. Margret Dörr und Prof. Dr. Brigitte Anderl-Doliwa hat zum Ziel, mit Hilfe genauer Beobachtung, Auswertung und Betrachtung alltäglicher Szenen gemeindepsychiatrischer Arbeit diese Frage zu beantworten. Das bis 2023 laufende Projekt wird mit rund 420.000 Euro vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert und in Kooperation mit der Hochschule RheinMain Wiesbaden durchgeführt.

VISION-RA – steht für Video- und theatergestützte Soziale Innovationen im Bereich recoveryförderlicher Arbeitsbündnisse in der (Gemeinde-)Psychiatrie. „Recovery bedeutet so viel wie Genesung oder Wiederherstellung. Im psychiatrischen Bereich gibt es eine Recovery-Bewegung, deren Blickwinkel auch für unser Projekt zentral ist. Die Bewegung ist vor dem Hintergrund der Erfahrung betroffener Personen entstanden, dass ihr Leid gar nicht so sehr an ihrer Erkrankung liegt, sondern daran, dass sie nicht verstanden und stigmatisiert werden. Es geht darum, nicht auf die Erkrankung festgelegt zu werden und ein zufriedenes Leben trotz Hemmnissen führen zu können. Dafür ist es von großer Bedeutung zu betrachten, was zwischen den Interaktionspartnern geschieht – also zwischen professionell Tätigen und Nutzern gemeindepsychiatrischer Einrichtungen“, erklärt Brigitte Anderl-Doliwa, Professorin für Erweiterte Pflegekompetenz bei langfristigem Versorgungsbedarf (Schwerpunkt Psychiatrie) an der KH Mainz und Pflegedirektorin am Pfalzklinikum Klingenmünster.

Mit Hilfe der Methode des Szenischen Verstehens nähert sich das Forschungsteam um Dörr und Anderl-Doliwa dem gemeinsamen Geschehen zwischen den Interaktionspartnern an. „Methodisch basiert das Projekt auf drei Schritten. Zunächst erfolgen Beobachtungen des alltäglichen Miteinanders in den jeweiligen Einrichtungen. Die festgehaltenen Szenen werden in einem nächsten Schritt analysiert. Dabei betrachten wir die Szenenfolge wie in einem Film und stoppen sozusagen bei einer Film-Sequenz, die wir dann genauestens unter die Lupe nehmen. Der dritte Schritt besteht darin, mit den Interaktionspartner noch einmal auf eine von ihnen ausgewählte Szene zu schauen und diese entsprechend des eigenen Erinnerns - quasi wie ein Theater – nochmals nachzuspielen. Dabei fließen seitens der Projektmitarbeiterinnen auch Rückmeldungen aus der Analyse der Szene vermittelnd ein“, erläutert Margret Dörr, deren Schwerpunkt als Professorin für Theorien Sozialer Arbeit/Gesundheitsförderung im Bereich Psychiatrie und Sozialpsychiatrie liegt. Die Nutzer der Einrichtungen und das professionelle Personal seien dabei gleichberechtigte Partner. „Diese partizipative Ausrichtung des Projektes ist für uns ein zentrales Kriterium. Alle Beteiligten sind Fachleute, von denen wir lernen wollen“, betont Dörr.

Wohngemeinschaften, Beratungsstellen, Tagesstätten oder psychosoziale Dienste – die Gemeindepsychiatrie umfasst verschiedenste Angebote, die sich an Menschen mit seelischen Erkrankungen, wie Depressionen, Schizophrenie oder Traumata, richten. Das Projekt VISION-RA wird in sechs gemeindepsychiatrischen Zentren durchgeführt. Bisher sei man in den Einrichtungen auf ein großes Interesse und viel Offenheit gestoßen, berichten die Professorinnen. „Wir haben bereits in fast allen Einrichtungen Workshops, Beobachtungen und szenische Rückkopplungen durchgeführt. Des Öfteren haben wir dabei von den Beteiligten die Rückmeldung bekommen, dass sie die Situation zuvor noch nie so gesehen haben. Das Aha-Gefühl wird durchaus als Chance und Hilfe im Arbeitsalltag betrachtet“, erläutert Prof. Dr. Margret Dörr.

Die Gemeindepsychiatrie sei ein bisher noch eher selten betrachtetes Forschungsfeld der psychiatrischen Praxis. Dabei sei gerade dies ein zentraler Ort für die soziale Teilhabe betroffener Menschen, unterstreicht Prof. Dr. Brigitte Anderl-Doliwa. Situationen, in denen es in der alltäglichen Arbeit zu Konflikten in der Interaktion kommt, kennt sie aus eigener praktischer Erfahrung. „Gefühle werden nicht rein sprachlich übermittelt, sondern kommen in vielen Situationen nur verschlüsselt zum Ausdruck. Man könnte auch sagen, sie werden über Mimik oder Gestik inszeniert. Solche Situationen brauchen tatsächlich eine Lupe, um sie besser verstehen zu können und Aspekte zu erkennen, die so im Alltag niemals klarwerden. Unser Projekt könnte helfen, dies aufzudecken.“