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Wie geht gute Beziehungsgestaltung online? Welche Methoden lassen sich sinnvoll einsetzen?

Jan Lohl: Online-Beratung hat in verschiedenen Formen durch die Pandemie an Bedeutung zugenommen. Worauf sollten Berater:innen achten, wenn sie Online-Beratungen durchführen?

Kira Nierobisch: Aus meiner Sicht ist wichtig, natürlich und authentisch zu bleiben und nicht die eigene beraterische Haltung dem Online-Format unterzuordnen. Berater:innen sollten so arbeiten, als wenn ihnen die Klient:innen face to face gegenübersitzen. Stärker zu prüfen ist bei der Online-Beratung allerdings, welches Format zu meinen Klient:innen, deren Themen und auch zu der eigenen Einrichtung passt. Es gibt ganz unterschiedliche Formen der Online-Beratung: z.B. E-Mail-Beratung, video- oder telefongestützte Beratung, Messenger-Beratung oder Beratung über Foren. Wer Online-Beratung anbieten möchte, sollte sich vorab über die Formate und Möglichkeiten informieren.

Ganz besonders wichtig ist mir, dass Online-Beratung kein Add-On ist, das nebenbei und zusätzlich zu der Face-to-Face-Beratung durchgeführt wird. Berater:innen und Einrichtungsleitungen sollten auf eine professionelle Durchführung der Online-Beratung achten und genügend zeitliche Ressourcen dafür zur Verfügung stellen. Online-Beratung erfordert deutlich mehr Zeit als gedacht.

Kurz: Wer Online-Beratungen durchführen möchte, sollte sich weiterbilden – methodisch wie technisch – und die innere Bereitschaft entwickeln, sich auf dieses Format ernsthaft einzulassen.

 

Jan Lohl: Wie verändert sich durch ein Online-Format die Arbeitsbeziehung zwischen Berater:in und Klient:in? Worauf ist bei der Beziehungsgestaltung zu achten?

Kira Nierobisch: Die Arbeitsbeziehung verändert sich durchaus, denn es fehlen mir Wahrnehmungskanäle, die ich in der Face-to-Face-Beratung zentral nutze. Gerade paraverbale Signale der Klient:innen sind im Online-Setting schwerer wahrzunehmen. In der Face-to-Face-Beratung spüren Berater:innen vielleicht, ob das gegenüber nervös ist oder bekommen mit, ob jemand Schwierigkeiten hat, seinen/ihren Tag zu strukturieren. In der Online-Beratung muss ich diese Informationen aktiver abholen und meine Wahrnehmung von den Klient:innen aktiver klären, d.h. die Beratungsbeziehung muss im Online-Setting expliziter und oft auch kleinschrittiger gestaltet werden. Gerade zu Beginn einer Online-Beratung ist dies wichtig. Aber für die Beziehungsgestaltung gibt es gute Tools, die sich erlernen lassen, insbesondere Visualisierungen und kreative Methoden, die sehr wirkungsvoll sind.

Jan Lohl: In dieser Hinsicht würde ich gerne Judith Lehnart etwas fragen. Im Präsenzsetting arbeiten viele Berater:innen auch mit nonverbalen Methoden. Lässt sich dies auch in der Online-Beratung ermöglichen?

Judith Lehnart: Hierauf möchte ich mit einem klaren JA antworten! Natürlich unterscheidet sich das Online-Setting von der Face-to-Face-Beratung in einem gemeinsamen Raum. Beim genauen Hinschauen finden sich aber durchaus viele Gemeinsamkeiten. Es bleibt meistens beim klassischen 2er-Setting, es entsteht ein gemeinsamer, vertrauter (Online-)Raum. In diesem Setting ist es möglich, neue Erfahrungen zu machen. Dazu eignen sich nonverbale Methoden, wie kleine Übungen oder Aufgaben. Auch Bilder lassen sich wunderbar einsetzen und entfalten ihre Wirkung am Bildschirm noch einmal auf besondere Weise. Berater:innen geben allerdings im Online-Setting etwas von der Kontrolle über die Situation ab. Das macht es ihnen vielleicht schwerer, Methoden in ein Online-Format zu übertragen, die sie im Präsenzformat ganz selbstverständlich einsetzen. Wie genau mein:e Klient:in die Aufgabe umsetzt, kann ich nicht sehen, ich muss da vertrauen. Es ist allerdings beeindruckend zu erleben, wie kreativ Klient:innen die Anregungen aus Übungen umsetzen. Ich finde es sehr hilfreich und wichtig, als Berater:in diese Methoden in Online-Fortbildungen ausprobiert zu haben, um sich selbst in der übenden Rolle zu erleben. Hier kann ich nur einladen, erfahrungsbasiert vorzugehen; nicht (nur) darüber reden, sondern tun!

Jan Lohl: Dies verstehe ich als einen Hinweis auf die Akzeptanz- und Commitmenttherapie, mit der Du Dich in den vergangenen Jahren viel beschäftigt hast und die Du als Therapeutin auch im Online-Setting anwendest. Was ist das für eine Therapieform? Worin bestehen aus Deiner Perspektive die Vorzüge?

Judith Lehnart: Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) ist eine Verhaltenstherapie der sogenannten "dritten Welle", in der achtsamkeits- und akzeptanzbasierte Verfahren eine wichtigere Rolle spielen. Grob gesagt geht es darum, psychische Flexibilität durch die Nutzung/Aktivierung sechs psychischer Prozesse zu erreichen: Achtsamkeit, Akzeptanz, Defusion, Werteorientierung, engagiertes Handeln (Commitment) und Selbstkontextualisierung. Diese Prozesse können am besten erlebnisorientiert gefördert werden, weshalb in der ACT viele Methoden eingesetzt werden, die das Erleben/Erfahren im Moment ermöglichen. Da ACT transdiagnostisch orientiert ist und die Förderung psychischer Flexibilität zum Ziel hat, eignet sie sich m.E. sehr für Beratungskontexte und durch die Erlebnisorientierung auch für das Online-Setting. Immerhin heißt das Akronym ACT (gesprochen „äkt“) nichts anderes als „Handle!“ oder „Tu!“

Jan Lohl: Dazu sind auch geeignete Anwendungen notwendig. Tools und Apps kennen vermutlich viele Menschen für die Terminabstimmung oder zum Datenaustausch. Andreas, Du hast eine besondere Expertise in diesem Feld. Welche Tools findest Du speziell für die Online-Beratung sinnvoll und warum?

Andreas Büsch: Ich finde digitale Tools vor allem spannend, weil sie uns neue und andere Möglichkeiten der Zusammenarbeit, des Austauschs und des gemeinsamen Lernens ermöglichen. Speziell für die Online-Beratung sind m.E. die Tools interessant, die eine gemeinsame Visualisierung von Ideen, Überlegungen und Prozessen ermöglichen und natürlich solche Angebote, die Stimmungen und Gefühle in Online-Settings verfügbar und bearbeitbar machen. Erfreulicherweise gibt es dafür mittlerweile eine ganze Reihe von Möglichkeiten - und das sogar datenschutzkonform ;-).

Jan Lohl: Kira, die letzte Frage geht an Dich: Wenn Du an Online-Beratung in fünf oder zehn Jahren denkst, was wird sich dann verändert und entwickelt haben?

Kira Nierobisch: Wir werden vermutlich eine stärker individualisierte Beratung und eine "Blendend-Counceling-Culture" in vielen Einrichtungen vorfinden. Die Beratungsstellen werden verschiedene Beratungsangebote und -formate vorhalten, also unterschiedliche Formen der Face-to-Face- und der Online-Beratung, die je individuell verknüpft werden. Erforderlich sind ausreichende zeitliche und finanzielle Mittel ebenso wie eine hohe Kompetenz in der Gestaltung und Steuerung von Beratungsprozessen sowie eine Eigenverantwortlichkeit der Klient:innen, was auch ein Risiko darstellt. Deutlich wird dabei der Grundsatz: Beraten heißt immer auch begleiten und das heißt auch steuern. Umso wichtiger werden in Zukunft die folgenden Fragen sein: Wer und was steuert eigentlich die Berater:innen? Welchen Steuerungslogiken unterliegen sie? Dies kritisch zu reflektieren wird in Zukunft wichtiger werden, um gut beraten zu können. Ich wünsche mir, dass dies in den Teams passiert, aber auch auf Fachtagungen und natürlich in Weiterbildungen.

(Fotos: © KH Mainz: Jan Lohl, Kira Nierobisch, Judith Lehnart, Andreas Büsch)