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„Wer sprengt eigentlich was?“

Prof.in Dr. Vanessa Schnorr ist Mitglied des Interdisziplinären Fallberatungsteams (InFaBeT), welches Jugendämter in Rheinland-Pfalz bei der Arbeit mit jungen Menschen mit komplexen Lebens- und Hilfegeschichten – sogenannten Systemsprengern – unterstützt.

Prof.in Dr. Vanessa Schnorr ist Mitglied des Interdisziplinären Fallberatungsteams InFaBeT. An der KH Mainz ist sie als Professorin für Methoden der Sozialen Arbeit im Fachbereiche Soziale Arbeit und Sozialwissenschaften tätig. (©KH Mainz)

Mit Hilfe von Chronologien lässt sich die Komplexität der Fälle veranschaulichen, für die die Beteiligten des Interdisziplinären Fallberatungsteams neue Handlungsmöglichkeiten und individuelle Lösungen erarbeiten. (© Landesjugendamt)

Schulausschluss droht, Jugendhilfeeinrichtungen oder Kliniken lehnen die Aufnahme ab und trotz mehrfacher Fallberatungen und diverser Hilfsangebote steigt der Druck auf die zuständige Fachkraft im Jugendamt, da eine Unterbringungsmöglichkeit nicht in Sicht ist. So in etwa lässt sich die Situation skizzieren, wenn in der Jugendhilfe von der Arbeit mit Systemsprengern die Rede ist. „Der Begriff wird in Praxis und Forschung wieder intensiv diskutiert, denn es werden unterschiedlichste Definitionen und Vorstellungen damit verbunden, wer hier eigentlich was sprengt. In unserer Arbeit sprechen wir daher von Kindern und Jugendlichen mit sehr komplexen Lebens- und Hilfegeschichten. Wichtig ist zu sehen, dass diese jungen Menschen nicht nur Schwierigkeiten machen. Sie haben Schwierigkeiten – und zwar sehr vielfältige“, erklärt Dr. Vanessa Schnorr, Professorin für Methoden der Sozialen Arbeit an der Katholischen Hochschule Mainz.

Vanessa Schnorr ist Mitglied des Interdisziplinären Fallberatungsteams (InFaBeT), welches Jugendämter in Rheinland-Pfalz bei der Entwicklung von Lösungen in besonders komplexen Fällen unterstützt. Das Angebot ist ein Baustein der vom Landesjugendamt Rheinland-Pfalz eingerichteten Koordinierungsstelle für komplexe Einzelfälle, die verschiedene Beratungsangebote für die Jugendämter des Landes bietet. „Das Interdisziplinäre Fallberatungsteam besteht aus einem Kern- und einem Fallteam. Im Kernteam wirken das Landesjugendamt, Vertreter der Jugendämter, der Freien Jugendhilfeträger sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit. Ich vertrete den wissenschaftlichen Bereich im Kernteam“, erzählt Vanessa Schnorr. Das Fallteam setzt sich aus den im jeweiligen Fall beteiligten Institutionen zusammen – beispielsweise Schule, Polizei, Vormund oder Familiengericht. Ziel sei es, in der Zusammenarbeit beider Teams den jeweiligen Fall neu oder anders zu verstehen, konkrete Handlungsmöglichkeiten zu erarbeiten und individuelle Lösungen zu entwickeln.

Vanessa Schnorr beschäftigt sich seit vielen Jahren in Praxis, Lehre und Forschung mit jungen Menschen mit komplexen Lebens- und Hilfegeschichten. Mehrere Jahre leitete sie selbst eine Jugendhilfeeinrichtung und war dort unter anderem dafür zuständig, passende Hilfeleistungen und Angebote zu entwickeln und umzusetzen. Die Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis sei ein Gewinn für alle Seiten, ist sich Vanessa Schnorr sicher. „Mir ist es immer wichtig, in meiner Lehre aus Wissenschaft und Praxis zu schöpfen. Für Studierende ist es spannend, an aktuellen Themen nah dran zu sein und zu erfahren, was Fachkräfte in welchen Fallkonstellationen bedenken, beraten und umsetzen. Zugleich gilt es, Themen, Herausforderungen und Phänomene aus der Praxis an einem anderen Ort zu reflektieren und Lösungen weiterzuentwickeln. Hierfür braucht die Praxis die Verbindung zu Hochschulen und Forschungseinrichtungen.“

Eine erste Zwischenauswertung habe gezeigt, dass die Arbeit des Interdisziplinären Fallberatungsteams positive Auswirkungen auf die Zusammenarbeit mit den Kindern und Jugendlichen sowie innerhalb des Helfersystems habe. „Die Beteiligten konnten ein tiefergehendes Fallverstehen entwickeln und an Handlungssicherheit gewinnen. Dadurch war es auch möglich, neue oder alternative Handlungsmöglichkeiten zu schaffen. Natürlich braucht es Zeit für die Vorbereitung, Beratung und Dokumentation. Die Kosten-Nutzen-Relation wird jedoch von den Beteiligten als positiv bewertet“, berichtet Vanessa Schnorr.

Die Unterstützung durch das Interdisziplinäre Fallberatungsteam können die Jugendämter seit Oktober 2019 in Anspruch nehmen. Pro Monat ist eine Fallberatung möglich. Vanessa Schnorr freut sich, dass die Arbeit des InFaBet weitergehen wird – Ende bisher offen. „Es sind zum Glück nur wenige Kinder und Jugendliche, die als sogenannte Systemsprenger das Helfersystem herausfordern. Da der Leidensdruck jedoch oft hoch und die dahinterstehenden Geschichten so komplex sind, ist dieses Beratungsangebot so wertvoll. Wir müssen diese jungen Menschen sehen und ernst nehmen, die Logik aller Handelnden wie auch die Logik der beteiligten Hilfesysteme versuchen zu verstehen und offen sein für außergewöhnliche Lösungen.“