Ihr erster Einsatz in der Psychiatrie zu Beginn der 80er-Jahre war für Professorin Dr. Brigitte Anderl-Doliwa ein Wendepunkt in ihrer Ausbildung zur Krankenpflegerin. „Plötzlich war ich wirklich nah am Menschen und hatte endlich das Gefühl, doch den richtigen Beruf gewählt zu haben“, erzählt die heutige Pflegedirektorin des Pfalzklinikums Klingenmünster und Professorin für Erweiterte Pflegekompetenz bei langfristigem Versorgungsbedarf (Schwerpunkt Psychiatrie) an der KH Mainz. Die psychiatrische Pflege und deren stetige Professionalisierung begleiten sie nun seit über 40 Jahren – sowohl in der Praxis als auch in der akademischen Ausbildung.
„Im psychiatrischen Bereich ist man sozusagen mitten im Leben der Patient*innen, da neben der pflegerisch-medizinischen Versorgung die Begleitung im Alltag und die Bewältigung des Tagesablaufs eine große Rolle spielen“, berichtet Brigitte Anderl-Doliwa. Gespräche führen, motivieren, Ängste abbauen und Situationen üben, deeskalieren oder ermutigen – all das mache diesen Bereich so vielfältig und besonders. „Ich habe in der Psychiatrie die interessantesten Menschen meines Lebens getroffen, sehr emphatisch und zu intensiven Gefühlen fähig.“
Professionalisierung und Akademisierung
Im Vergleich zu vielen anderen Ländern sei das Gesundheitssystem in Deutschland allerdings nach wie vor stark arztzentriert, was auch den psychiatrischen Bereich betreffe. „Pflegende bekommen weniger Kompetenzen und Aufgaben zugewiesen, als sie übernehmen könnten. Sie könnten sozusagen mehr leisten, als sie dürfen“, erklärt Brigitte Anderl-Doliwa. Ein System, das finanziell und strukturell zunehmend an seine Grenzen gerate. „Die Versorgungssysteme werden sich weiter verändern müssen – hin zu mehr Interprofessionalität und einer Vernetzung stationärer, ambulanter und aufsuchender Angebote, in denen Kompetenzen und Aufgaben der Berufsgruppen ineinandergreifen.“ An diesem Punkt brauche es die Akademisierung der Pflege, damit auch Pflegefachkräfte ihre Profession auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse ausüben und weiterentwickeln können. Eines betont Brigitte Anderl-Doliwa an dieser Stelle ganz besonders: „Eine akademische Professionalisierung der Pflege ist mir wichtig, weil es wichtig ist für die Versorgung der Menschen. Wir brauchen akademische Pflegende, die direkt mit den Patient*innen arbeiten und ihre Kompetenzen deutlich breiter gestaffelt in die Praxis bringen können."
Praktikerin und Professorin
Mit dem aktuellen Sommersemester verabschiedet sich Brigitte Anderl-Doliwa nach 12 Jahren an der KH Mainz in den Ruhestand. Das tolle an ihrer Aufgabe an der Hochschule sei gewesen, Menschen in ihrer akademischen und persönlichen Entwicklung begleiten und auf erweiterte Aufgaben in der Praxis vorbereiten zu dürfen, freut sich Brigitte Anderl-Doliwa. „Ich sehe die Studierenden dann ja auch in der Praxis, sehe die grandiose Entwicklung - fachlich, aber auch persönlich und in ihrer Haltung. Manche habe ich über die Jahre von ihrer Ausbildung bis zur Promotion begleitet. Das ist für mich ein großes Privileg.“
Wunderbare Patientenbegegnungen
Fragt man Brigitte Anderl-Doliwa, wie sie selbst mit dem Arbeitsumfeld Psychiatrie und belastenden Situationen umgeht, gerät sie ins Schmunzeln. „Ich habe es nie als emotional belastend empfunden. Letztlich begegnen einem nur stärkere Ausprägungen von dem, was wir doch alle kennen.“ Psychosoziale Kompetenzen und eine persönliche Reflexionsfähigkeit brauche es für den Beruf auf jeden Fall. Man müsse zwischen dem Schicksal der Patient*innen und dem eigenen Leben trennen können. Und immer wieder seien es auch wunderbare Patientenbegegnungen gewesen, die ihr den Weg gewiesen hätten. Wie zum Beispiel die Begegnung mit einem Patienten, der wegen einer schweren Psychose in Behandlung war, inzwischen aber völlig eigenständig lebt und sogar seinen Berufswunsch umsetzen konnte. „Er hat mir mitgegeben, wie wichtig es ist, den Patient*innen Hoffnung zu geben und an sie zu glauben. Durch solche Begegnungen habe ich meine Arbeit immer wieder reflektiert, mich weiterentwickelt und eine andere Beziehung und Sicht auf meine Tätigkeit und die Menschen gewonnen.“
Prof.in Dr. Brigitte Anderl-Doliwa ist seit 2013 Stiftungsprofessorin für Erweiterte Pflegekompetenz bei langfristigem Versorgungsbedarf (Schwerpunkt Psychiatrie) an der KH Mainz. Seit 2019 arbeitet sie als Pflegedirektorin am Pfalzklinikum Klingenmünster. ⇒Profilseite von Prof.in Dr. Brigitte Anderl-Doliwa auf der Website der KH Mainz