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‚Kinder brauchen Grenzen!?‘ Werteerziehung in pluralen Gesellschaften

Professor Dr. Nils Köbel ist als Professor für Pädagogik an der KH Mainz tätig.

Im Unterschied zu vormodernen Gesellschaften, in denen Personen noch in unhinterfragte Wertvorstellungen und Traditionen eingebunden sind, verlieren in den Modernisierungsschüben des zwanzigsten Jahrhunderts unhinterfragte Rollenvorgaben und Normvorstellungen an Akzeptanz. Der Verlust dieser sozialen Verlässlichkeiten führt zu einer Fülle alternativer Möglichkeit der Lebensgestaltung. War die Biographie eines Individuums in traditionalen Gesellschaften eher von einer Eingliederung in vorgezeichnete Lebensläufe gekennzeichnet, so wird in pluralen Gesellschaften die Gestaltung der eigenen Biographie zu einem immerwährenden Projekt, das sich stets neu bewähren muss. Die wichtigste Instanz zur Überprüfung eines Lebensentwurfes ist nun das Subjekt selbst, das ohne eindeutige Vorgaben seine privaten und beruflichen Entscheidungen immer wieder vor sich selbst rechtfertigen muss. Dies bedeutet eine Aufwertung des ‚Authentizitätsideals‘, der permanenten Suche nach dem Gefühl von Echtheit und Stimmigkeit (vgl. z.B. Beck 1986, Berger 1999, Fend 2000, Keupp 2002).

In der Pädagogik und Erziehungswissenschaft führte dieser Befund zunehmender Pluralisierung und Individualisierung immer wieder zu der Frage, wie Eltern und PädagogInnen mit Werten und Normen erzieherisch umgehen können und sollen: Gibt es noch gesamtgesellschaftlich geteilte Wertvorstellungen oder sind moralische und ethische Fragen nun ganz in die persönliche Entscheidung des Einzelnen gestellt? Und: Wie können allgemeine Regeln und persönliche Werte Kindern gegenüber angemessen zum Ausdruck gebracht werden? Einer der bekanntesten zeitgenössischen Autoren, der sich diesen Fragen annimmt, ist der dänische Pädagoge und Familientherapeut Jesper Juul. In seinen populärwissenschaftlichen Büchern wendet sich Juul den allgemeinen Fragen moderner Erziehung zu: Wie sollen Werte und Normen vermittelt werden? Was bedeutet Autorität und Macht in Erziehungsprozessen? Wie ist das Verhältnis von PädagogInnen und Kindern zu bestimmen? Juul bezieht in seinen Antworten auf diese Fragen keine erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen ein, sondern verlässt sich ganz auf seine eigenen therapeutischen Erfahrungen. Mit dieser Fokussierung wird einerseits ein großes Publikum gewonnen, das keinerlei pädagogische Vorkenntnisse braucht, andererseits kann er mit seinen Büchern nicht an die akademische Erziehungswissenschaft anschließen, was er jedoch augenscheinlich auch gar nicht möchte.

Juul legt in seinen Büchern Wert darauf, sich gegen seiner Meinung nach antiautoritäre Erziehungsvorstellungen abzugrenzen und das Prinzip der Verantwortung zu betonen. So sind Erwachsene grundsätzlich für die Beziehungsqualität mit Heranwachsenden verantwortlich: „Die Verantwortung für die Qualität des wechselseitigen Umgangs miteinander kann weder auf die Kinder übertragen noch mit ihnen geteilt werden, sie liegt ausschließlich bei den Erwachsenen. Es ist ihre größte Verantwortung, und sie liegt auf dem Gebiet, auf dem sie indirekt die größte Macht im Umgang mit Kindern ausüben“ (Juul 2009b, S. 18). Dieses Insistieren wird entwicklungslogisch begründet: Wenn Eltern ihre Verantwortung wahrnehmen, werden Kinder entlastet und können ihre Entwicklungsaufgaben lösen. Verantwortungsloses Verhalten seitens der Eltern zwingt Kindern Aufgaben auf, die sie überfordern, und dies ist sowohl für Kinder als auch für Eltern schädlich.

Entscheidend ist für Juul die Art und Weise, mit der Erwachsene ihre Verantwortung ausüben. Diese Frage führt ihn zu einem Kerngebiet seiner Publikationen: Wie können Eltern und PädagogInnen Werte und Regeln formulieren, ohne Kinder zu verletzen oder zu demütigen? In diesen interessantesten Passagen seiner Bücher nimmt Juul – häufig nur implizit – jene Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse auf, die moderne Gesellschaften kennzeichnen. So betont auch er, dass Regeln und Normen, die in traditionalen Gesellschaften unhinterfragt geteilt wurden, durch Modernisierungsprozesse zunehmend in die Entscheidung des Einzelnen gestellt werden. Dies gilt auch für pädagogische Fragen: Konnten sich Eltern, LehrerInnen und ErzieherInnen bis weit in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts darauf verlassen, dass ihre pädagogischen Zielsetzungen und Normvorstellungen deckungsgleich mit jenen anderer gesellschaftlicher Institutionen waren, so muss in pluralen Gesellschaften die Frage, was eine gute Erziehung sei, stärker als je zuvor individuell beantwortet werden. Und auch hier zeigt sich das Paradoxon postmoderner Freiheit: Steigt die Wahlmöglichkeit für oder gegen pädagogische Methoden und Ziele, steigt auch die Verunsicherung, welche Entscheidung richtig oder falsch ist. Jesper Juul versucht diese Spannung zu lösen, indem er auf ein neues Konzept erzieherischer Autorität setzt: Nicht mehr die klassische Rollenautorität, die etwa einer Lehrerin aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position Anerkennung und Respekt garantiert, wird empfohlen, sondern die persönliche Autorität, deren Hauptmerkmale Authentizität und Beziehungsfähigkeit sind. Die passende Ausdrucksform dieser subjektgebundenen Autorität ist die ‚persönliche Sprache‘. Sie bildet einen Kernaspekt seiner pädagogischen Konzeption (Juul 2009, 2009b).

In Anlehnung an systemische Kommunikationsmodelle konstatiert er, dass Handlungen und Aussagen neben ihrer vordergründigen Bedeutung verschiedene Sinnschichten mit jeweils unterschiedlichen Botschaften beinhalten. Am deutlichsten wird dies am Beispiel gewalttätiger Erziehung: Wenn Gewalt als Mittel der Bestrafung für Kinder eingesetzt wird, werden mehrere Botschaften gleichzeitig an das Kind gesendet. Die offensichtlichste ist, dass das Kind etwas in den Augen des Erwachsenen Falsches getan oder gesagt hat. Eine zweite, implizite Botschaft ist, dass derjenige Gewalt einsetzen darf, der Macht besitzt. Und eine dritte Botschaft lautet, dass der oder die Erwachsene pädagogisch resigniert und hofft, dass die Angst vor Gewalt in Zukunft stärker wirkt als der Respekt vor der eigenen Person. Problematisch an einer solchen vielschichtigen Machtkommunikation ist, dass Heranwachsende die latenten Botschaften immer wahrnehmen, da sie die Beziehungsebene ansprechen, während die manifesten Botschaften häufig überhört werden.

Daher plädiert Juul für eine Kommunikationsform, die keine kontraproduktiven oder gar schädigenden Subtexte beinhaltet. Hierfür wählt er eine zeitgemäße Reformulierung des klassischen Ich-Botschaften-Prinzips: Einfache und eindeutige Aussagen über sich selbst sollen persönliche Standpunkte, Werte und Haltungen Kindern ohne versteckte Appelle oder Vorhaltungen zeigen. Eine solche persönliche Sprache kommt ohne negative Subtexte aus, da sie immer bei der sprechenden Person bleibt und keine Aussagen über andere Personen tätigt. Einfache Beispiele hierfür sind persönliche Statements wie ‚ich möchte dies, ich möchte dies nicht; für diese Meinung stehe ich, für jene nicht‘ (Juul 2009b, S.29). Juul bezieht das Konzept der persönlichen Sprache vor allem auf die Artikulation von Werten und Grenzen sowie auf die Einübung gegenseitigen Respekts. Er unterscheidet hierbei zwischen allgemeinen Grenzen wie gesellschaftlich gültigen Regeln, Konventionen und Gesetzen sowie persönlichen Grenzen, die individuell und als solche nicht generalisierbar sind. Das Konzept der persönlichen Sprache ist ihrem Wesen nach für die Kommunikation persönlicher Grenzen vorgesehen. Anstatt versteckte Vorhaltungen mit zu kommunizieren („Siehst du nicht, dass ich Zeitung lese?“ Juul 2009b, S.47) und damit latent die Wünsche des Heranwachsenden als falsch und unnötig zu deklarieren, hält eine Darstellung persönlicher Grenzen und Wünsche („Nein, ich will dir jetzt keine Geschichte vorlesen. Ich will meine Zeitung lesen“ ebd.: S.47) die wohlwollende Beziehung zum Heranwachsenden trotz Grenzsetzung aufrecht. Eine unpersönliche Sprache mit Vorwürfen, Appellen und Demütigungen ist nach Juul auf der Beziehungsebene ‚kalt‘ und daher schädlich, eine persönliche Sprache ist immer ‚warm‘, unabhängig davon, ob ja oder nein gesagt wird.

Da persönliche Werte, Wünsche und Haltungen individuell verschieden sind, möchte Juul Eltern und PädagogInnen ermutigen, die Frage nach persönlichen Werten und Grenzen als Prozess des Kennenlernens zu betrachten: Welche Werte habe ich als ErzieherIn? Woran erkenne ich die persönlichen Werte und Grenzen der Heranwachsenden, mit denen ich es zu tun habe? Diese Fragen und Reflexionen sowie die entsprechenden persönlichen Botschaften und Aussagen sind Juul zufolge eine Zeichen dafür, dass PädagogInnen ihre Verantwortung für die Qualität der Beziehung zu Kindern und Jugendlichen ernstnehmen (Juul 2009, 2009b).

Literatur

Beck U (1986) Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp, Frankfurt

Berger PL (1999) Sehnsucht nach Sinn. Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh

Fend H (2000) Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Leske+Budrich, Opladen

Juul J (2009) Dein kompetentes Kind. Auf dem Weg zu einer neuen Wertgrundlage für die ganze Familie. Rowohlt, Reinbek

Juul J (2009b) Grenzen, Nähe, Respekt. Rowohlt, Reinbek

Keupp H (2002) Identitätskonstruktionen – das Patchwork der Identitäten in der Postmoderne. Rowohlt Verlag, Reinbek